Donnerstag, 7. Februar 2013

Im Nebel nach Valfabricca

Franz und Wolf
Meine Grenzen wollte ich spüren und ich habe sie heute erreicht. In seinen besten Zeiten ging Franziskus in einem Tag die ca. 50 km bis Assisi, ich bin mit den 35 bis zum heutigen Ziel Valfabricca bestens bedient und spüre jeden Knochen. Warum ich mir solche Extremtouren immer wieder antue, ist mir selbst ein Rätsel - wahrscheinlich ist es das alte Spiel "Recht zu Leben bei Leistung".

Im Hintergrund Gubbio
Der Tag begann mit dichtem Nebel, der Gubbio in ein ganz eigenes Licht tauchte. Die Chiesa dell Vittorina - leider noch fest verschlossen - wäre ein lohnendes Ziel für eine Meditation am Morgen, interessanter als der wohl unvermeidliche Kitsch vor der Kirche, der den Wolf als Untertan mit beinahe eingezogenem Schwanz darstellt. Da sind mir sogar die Kläffer unterwegs sympathischer (Ich hoffe, ich denke nächstesmal auch daran). 

Nach einer Runde um das Kircherl wende ich mich nach Südosten in die dichte Nebelsuppe hinein. Nach einer leichten Bachdurchquerung über freundlich drapierte Trittsteine geht es steil bergauf - was von innen wärmt und mich in sonnigere Regionen führt. Ein wunderbarer Augenblick, das noch nebelverhangene Tal bleibt zurück wie eine Szene aus "Lord of the rings", darüber der Apennin und weiter Blick bis zum Startort von heute. Früh am Vormittag erreiche ich Valdichiascio und beschließe nach kurzem Überlegen, die restliche Strecke bis Valfabricca heute noch anzupacken.

Kloster San Pietro, klare Strukturen, 
aber mit Nachwuchsproblem
In der Kapelle von Ripe lasse ich einige Gedanken und Pilgergrüße im Anliegenbuch zurück, in Anlehnung an die aufmunternden Worte von Ka. Zu meiner großen Freude entdecke ich einige Tage zurück auch einen Eintrag von Lucas und Mona - lange verweilen meine Gedanken danach bei diesem multikulti-Paar, deren Liebe große Strecken und familiäre Verwerfungen erheblichen Ausmaßes überwinden muss.

Meine Bedürfnisse sind aktuell weit trivialerer Natur - ich habe zu wenig Wasser dabei, der angekündigte Hahn in Ripe war nicht auffindbar, erst in San Pietro in Vigneta gibt es einen Picknickplatz mit frischem Wasser. Im Garten des von der Außenwelt abgeschotteten Klosters eine Szene von ganz eigenem Charme, eine Schwester sitzt meditierend im Garten. Laut Kees wird San Pietro nur noch von einem Mönch bewohnt, der wohl schon einer Betreuung bedarf.

Bis zum Castello di Biscina sind Schilder angebracht, die mir erst nicht erklärbar sind: Zone addestramento cani di tipo "c" bedeutet (wie sich später herausstellt), dass hier Hunde abgerichtet werden, also eine Art Jagdhundeschule (für die Pilgerhatz?). Die Zähmung des wilden Wolfs von Gubbio scheint hier einen ganzen Industriezweig auf den Weg gebracht zu haben. 

Der Weg windet sich nun endlos um die diversen Berghänge herum, in Coccarano sind die Kohlehydratspeicher dann leer. Zum Glück ist noch immer ein Pecorinobrot von Davides Frau im Rucksack, das eine fürsorgliche Mutter einem Auswanderer als Proviant mitgeben würde. So gestärkt schaffe ich auch noch den Abstieg nach Barcaccio (wo Franz sich über den Chiascio setzen ließ - ich nehme die Brücke), von dort zieht es sich noch bis Valfabricca, wo ich im letzten Nachmittagslicht ankomme. Ohne groß Augen für den Ort zu haben, steuere ich im Endspurt auf die Jugendherberge zu. Ich werde gastfreundlich empfangen, das Zimmer ist bestens geheizt. Leider ein Dämpfer von Robert - er hat sich entschlossen, meine Reise aus der Ferne zu begleiten, er wird nicht nach Rieti kommen. 

Beim Abendessen (alleine mal wieder) sinniere ich über die Kommentare von Rob und Ka. Heute war unterwegs kein meditativer Gedanke zu hören, außer während der kurzen Rast in Ripe - zu sehr war ich mit Navigation und fast sportlichem Ehrgeiz beschäftigt. Die nächsten Tage werde ich ruhiger angehen lassen, mir mehr Zeit geben.



Mittwoch, 6. Februar 2013

Gubbio und der zahme Wolf

Ein gemütliches colazione mit Davide und seiner Gattin bringt mich für die heutige Tour in eine energetisch gute Startposition. Dicke Brote mit Pecorino bekomme ich ebenso mit auf den Weg wie Früchte als Wegzehrung für spontane Unterzuckerungen. Die beiden kümmern sich fast schon zu rührend um mich, Davide besteht darauf, mich hinter dem "langweiligen" Weg nach Pietralunga abzusetzen - ich bringe es nicht übers Herz, ihm diesen Wunsch abzuschlagen.


Pietralunga im frühen Morgenlicht
Er kennt die wunderbaren Stellen seiner Heimat bestens - der Aussichtspunkt in San Benedetto mit tollem Blick auf die übersprungene Stadt beeindruckt mich durch das intensive Farbenspiel und fast will ich zurückgehen nach Pietralunga, nachdem mich Davide mit dicker Umarmung verabschiedet hat. Das kenne ich nur zu gut - es fällt mir schwer, mich gegen wohlgemeinte aber doch Übergriffe zur Wehr zu setzen und freundlich aber bestimmt meine Vorstellungen zu artikulieren und dann auch auszuhalten, was als Reaktion kommt. Ich schreibe mir dieses "Selbstbestimmung"  getaufte Projekt gleich auf die Agenda für die nächsten Tage. Als Blogger habe ich es gut - jedes Erlebnis kann ich als Input für meinen Text verwerten, anstatt durch die Emotion (das eben war pure Hilflosigkeit) nur durchzugehen. 

Die Porta del Cassino und weitere Sehenswürdigkeiten lasse ich dann doch zugunsten der Zusammenlegung der beiden nächsten Etappen unbesucht, ich schau mir die beim nächsten Besuch bei Davide an. Heute muss ich noch in Gubbio ankommen. Das Wochenende verbringe ich hoffentlich schon in meinem ersehnten Zwischenziel Assisi.

Und so wandere ich heute sehr beschwingt über eine strada bianca durch die umbrische Landschaft, ausdauernd bebellt vom obligatorischen Wachhund, der zum Inventar jeden Hauses zu gehören scheint. Schon als Kind waren alle Hunde im Dorf hinter mir her und hatten einen Heidenspaß mich zu verfolgen. Jeder ambitionierte Hundehalter könnte mir natürlich überlegen die Fehler aufzählen, die mir solche "natürlichen und artgerechten" Reaktionen der elenden Vierbeiner eingebrockt haben. Offenbar haben dazu die italienischen Hunde eine spezielle Nase für das Adrenalin, das in mir bei den Attacken (meist aus dem Hinterhalt des eingewachsenen Gartenzauns) in Strömen ausgeschüttet wird. Der Wolf, der zu franziskanischer Zeit die Gegend um Gubbio tyrannisierte, hat in der Gegend wohl noch einige Nachfahren hinterlassen. Franziskus hatte ihn gezähmt, alles eine Frage der Kommunikation (ein Zitat von Gerda - sie sieht bei mir da Defizite und will mich zu katholisch geprägten Kursen mitnehmen, bisher erfolglos).

Schöne Gegend für ein Pilgerrefugio
Der Weg führt heute nach den letzten verlassenen Behausungen - viele würden renoviert passable Refugios abgeben - bis Casamorcia durch immer einsamere Wälder. Vermutlich würde es mir hier ähnlich gehen, wie den Pettinaris, ohne Zweitwohnung in der Stadt auf Dauer schwer auszuhalten, solch eremitische Abgeschiedenheit. Das Gayatri Mantra vertreibt die finsteren Gedanken an gewaltsame Abwehr von künftigen Hundeattacken; die wenigen Bewohner dieses Landstriches reagieren meist gelassen-amüsiert auf den Mantra-singenden Pellegrino und grüßen oft freundlich herüber, manchmal werde ich ignoriert oder ernte verwirrte Blicke. 

Kees hat den Weg akkurat beschrieben, ohne Verirrungen gelange ich bald in das Flusstal Richtung Gubbio und sehe die mittelalterliche Stadt bald am Bergsaum kleben, zu ihren Füßen ein teilweise hervorragend erhaltenes Amphitheater.
Zu viel Information für meine kleine Kodak
Archäologe war zu Gymasiumszeiten mein Traumberuf, so erkunde ich in voller Pilgermontur die Sitzreihen und staune wie schon in Epidauros und Ephesus über die Akustik, auch wenn der Großteil des Bauwerkes wohl oben in der Stadt in neuer Form weiterlebt. Die Stadt selbst präsentiert sich künstlerisch und weltoffen. Wie ein riesiger Balkon bietet der Hauptplatz ein grandioses Panorama und animiert zum schauen und verweilen. Leider nimmt die von Kees empfohlene Herberge (Institut der frommen Philippinerinnen) keine Gäste für eine Nacht auf, doch das vom Hausmeister vermittelte Privatzimmer gefällt mir prima. 

Nun bin ich "offizieller" Pilger
Nach kleiner Wäsche strolche ich den Nachmittag in Gubbio herum, besuche S. Giovanni und S. Francesco (dort ist hinter Gittern der Stein zu besichtigen, von dem aus Franziskus erfolgreich seine Tierkommunikation mit dem Wolf betrieb). 

Im Tourist-Office erhalte ich dann mein Credenziale del Pellegrino, das mich nun auch offiziell als Pilger auf dem Franziskusweg ausweist. Was das tägliche Ritual um einen Schritt erweitert - von nun an bin ich angehalten einen timbro zu bekommen, also den Stempel der Pfarrei meines Zielortes, um die Pilgerschaft zu bestätigen. Im Convento von San Francesco klappt dieses Vorhaben auf Anhieb - mir schwant, dass mein Jagdtrieb auf den Timbro erwacht ist. Stolz auf die ca. 22 km von heute bin ich bald wieder im Zimmer, wo ich trotz Aussicht auf die morgige Langstrecke (ich habe wieder eine Doppel-Etappe im Sinn) lange wach liege. Müde nicht einschlafen können erweist sich als frustrierende Kombination, erst All is welcome here (repeat=on) vom Handy weist mir den Weg.

Dienstag, 5. Februar 2013

Pietralunga und Il Pioppo

Mit einem endlos gesungenen Gayatri Mantra finde ich doch noch meinen Schlaf, in Gedanken noch beim Besuch im Kräuterladen von Luisella, wo Lucas wortreich in spanisch-englischem Kauderwelsch Mate zu kaufen suchte und mit der faszinierten Ladenbesitzerin sofort in guten Kontakt kam. Offenbar wird Neid zum Hauptthema meiner Pilgerreise - ich meditiere über Eifersucht und den Kailash, ein weiteres Traumziel. 
 

Volto Santo, das heilige Antlitz
Am Morgen habe ich es dann eilig, aus dem Fiorentino abzureisen. "Meine" Australier sind wohl schon in Assisi, unserem gemeinsamen Zwischenziel. Ich lasse den verwaisten Frühstücksraum daher ohne Aufenthalt sausen und marschiere zum Busbahnhof, nicht ohne in der Kathedrale von Sansepolcro (auf übereinstimmenden Rat von Paola und Kees) das Kruzifix mit dem Volto Santo aus karolingischer Zeit zu besuchen. Ein eigenartiger Reiz geht von diesem intensiven Blick vom Kreuz aus, demütig hingegeben, nicht unähnlich Gerdas Ausdruck bei meiner Abreise. Oh je, ich mache mich schon über kirchliche Kunstwerke und meine Frau lustig. Gesammelte Pilgerstimmung sieht wohl anders aus. Zum Glück habe ich Gerda heute in der Früh am Handy erreicht, bevor sie Antonia in den Kindergarten brachte. Meckis Sinnkrise ist derzeit Tagesgespräch. Bello erzählt mir, was er in der Hundeschule gelernt hat. Ich vermisse das Morgenritual mit Antonia gerade wieder sehr.

Um mich wieder auf die katholische Spur zu setzen, besuche ich in Città di Castello die Frühmesse, der ich weitgehend folgen kann. Inmitten einer gläubigen Rentnerschar falle ich auf wie ein Rocker im Festspielhaus. Mit gemischten Gefühlen verlasse ich blinzelnd ob der strahlenden Sonne draußen das finstere Gotteshaus. Am Busbahnhof dann die Ernüchterung: Der Bus nach Pietralunga fährt feierabendgemäß erst um 17 Uhr und ein grantiger Taxifahrer (im Jägerdress, vermutlich hortet er Patronen im Handschuhfach) verlangt 50 Euro. So suche ich mir auf der Landkarte einen Wanderweg dorthin, auch um mein schlechtes Gewissen wegen der Abkürzung zu mindern.

Von Kees verlassen (seine Route geht weiter nördlich via Lama und Bocca Serriola nach Pietralunga), wandere ich die ersten Kilometer bergauf in der prallen Sonne auf der Hauptstraße - weiter vorn soll der Wanderweg 109b mich Richtung meines heutigen Tagesziels bringen. Schüchterne Versuche des Autostops werden von den vorbeirauschenden conduttori souverän ignoriert. Beängstigenderweise legt ein entgegenkommender Alfa bei meinem Anblick eine Vollbremsung hin, wendet und fährt langsam wieder hinter mir her. Unangenehme Erinnerungen an Raul und das Schweigen der Lämmer werden wach, bis sich Davide, ein freundlicher Herr im Rentenalter, am herunter gefahrenen Fenster als Hüter des "Il Pioppo" zu erkennen gibt und mir anbietet, in seinem Refugio auf dem Weg nach Pietralunga zu übernachten. Was bin ich für ein Schisser! Wir verabreden, dass ich mich telefonisch bei ihm melde, wenn ich von weiteren Gefahren unbehelligt abends seine casa erreicht habe. Wieder wendet er lässig seinen schnittigen 156er und brettert weiter nach Città.  Ein Moment im Leben, der mir das Gefühl von Geleitetsein vermittelt.


Umbrien von einer seiner besten Seiten
Bald finde ich den Einstieg in den auch von Davide angekündigten Wanderweg. Zum ersten Mal während meiner Tage in Italien fühle ich mich rundum wohl, genieße den wunderbaren Weg durch die einsamen Wälder und freue mich auf den Abend im ersten "richtigen" Refugio. Die Aussicht über die Berge und Hügel Umbriens ist einfach nur überwältigend, ganz behutsam setze ich meine Schritte, genieße mein Privileg, hier und heute durch diese prachtvolle Natur zu pilgern. Ich sollte Kees von dieser alternativen Route erzählen, er würde diesen Weg bestimmt schätzen. 

Nach Überqueren mehrerer bewaldeter Hügel stoße ich auf eine breite Forststraße, die nach Pietralunga hinabführt. Heute traf ich auf die ersten Wegweiser nach Assisi, wo ich mir mehr Atmen von franziskanischer Luft und Geisteshaltung erhoffe. Unterwegs treffe ich jetzt häufiger auf Siedlungen, zuerst verlassene Ruinen, dann liebevoll restaurierte Anwesen, wo erfolgreiche Schriftsteller in meiner Phantasie einen Bestseller nach dem anderen verfassen.

Tatsächlich findet sich auch der versprochene Wegweiser zum "Il Pioppo", das verlassen in der warmen Sonne des Spätnachmittages auf mich wartet. Ich spreche Davide auf seine Mobilbox (hoffentlich, von der Ansage kapiere ich kein Wort) und schicke sicherheitshalber noch eine SMS hinterher. Dann mache ich es mir in einem der Gartenstühle bequem und sinniere über meine Anfänge als Pilger nach.

Zusammen mit Marina, der Frau meines Trauzeugen, war ich einige Male nach Altötting unterwegs. Zuerst als munteres Zweierteam, dann schließlich inmitten Rosenkranz-betender Menschenmassen auf dem Kapell-Platz in AÖ. Die Idee war ursprünglich der wenig katholisch anmutende Ansatz, diese Wallfahrt als Dank für die nicht für möglich gehaltene Scheidung von meiner ersten Frau anzutreten - ein Entschluss, der mich beim ersten Versuch bis über meine körperliche Grenzen führte. Was ja dann doch irgendwie wieder zum schrecklichen Ende meiner ersten Ehe passte.

Ein Verwandter von Lumpi hält Wacht am "Il Pioppo"
So langsam werde ich unruhig, es ist halb sechs, langsam wird es dunkel und kalt, kein Davide in Sicht. Erstmals beruhigt mich ein Hund, der eisern vor der Türe Wacht hält und mich nach kurzem Beschnuppern (vermutlich riechen meine Merrells schon nach altem Knochen) weitgehend ignoriert. Meine Raulbasierte Logik - wo Hund, da ist Herrchen nicht weit. Tatsächlich - bald begrüßen mich Davide und seine Frau wie einen alten Bekannten und weisen mich in die Infrastruktur des mit Sachverstand und Hingebung restaurierten Anwesens ein. 

Klar ist es im Zimmer nicht besonders warm, doch ich werde bald nach unten gebeten und nehme zusammen mit den Pettinaris ein köstliches Abendessen ein, es gibt Spaghetti mit Ragú (ok, hatte ich schon mal, aber nicht sooo lecker), patate fritte, insalata mista, cremigen Bel Paese und Weißwein, in den wir zu späterer Stunde als Dessert steinharte Cantuccini tunken - ein wundervoller Geschmack. Davide war Mathelehrer und lebt in Città di C. Mit seiner Familie hat er das Il Pioppo wieder zum Leben erweckt, im Sommer von Mountainbikern heiß begehrt, aber eigentlich als Pilger-Refugio geplant (wie Lucas Idee). Nicht umsonst haben viele reiche  Amerikaner und Briten die Häuser ringsum aufgekauft und restauriert - sie scheinen einen "Riecher" für wahre Werte zu besitzen - eine einzigartige Umgebung. 


Pilgervater und -mutter mit glücklichem Pelegrino
Anscheinend bin ich der erste, der diesen Service in Anspruch nimmt - daher die Aktion von heute Vormittag. Wir unterhalten uns über meine Reisepläne (Assisi - ok, aber Rom? - verrückt), meinen Job (was heißt Fußtritt gleich wieder auf italienisch?), Familie (e complicato...) und Kinder (more complicated). Als es immer kälter wird, darf auch Scorpio der Wachhund mit ins Haus und wir verkriechen uns fast unter den riesigen Kamin der urgemütlichen Küche. Leider wird das Foto nix, weil meine alte Kodak solche Lichtverhältnisse gar nicht abkann, aber die Stimmung abends im Pioppo werde ich nie vergessen. Molto Grazie Famiglia Pettinari! Irgendwann komme ich wieder, bald. 

Solcherart verwöhnt macht das Pilgerleben Spaß. Zum ersten Mal seit Monaten schlafe ich durch, keine Alpträume, kein Grübeln, mit den Klavier-Klängen, die mir Ka aufs Handy geschickt hat.





Montag, 4. Februar 2013

Montecasale mit Lucas&Lumpi

Sansepolcro-Impression
Dennis, mein Teenager-Sohn (der nun bei seiner Mutter lebt, nachdem er Jahre allein mit mir verbrachte), sendet mir in der Nacht wohl während einer Playstation-Pause ein anrührendes Mail. Nur eine kurze Nachricht als Antwort meiner Abschiedsmail, aus der aber zum ersten Mal seit langem Interesse an dem spricht, was sein abwesender Papa so treibt. Ich spüre, dass sein "Hab Dich lieb"-Abschiedsgruß mich stärkt wie bedächtiges Gießen eine austrocknende Pflanze. Beim Frühstücken treffe ich Cathy und Claas, ein relaxtes Paar aus Australien, die Ihren (Un-)Ruhestand ein Vierteljahr lang mit einem "Europe-Trip by car" ausleben. Eine edle Art, die Zeit nach der Maloche zu verbringen.

Trend: Mutter mit Zwillingen
Paola aus dem Fiorentino stellt mir eine kleine Liste mit "must see" Spots in ihrem Heimatort zusammen. Gut geführt starte ich den Tag im museo civico, das stolz die Werke Pietro Francosas präsentiert, einem der berühmten Söhne Sansepolcros. Im Keller des Museums bestaune ich alte Türschlösser - ob heutzutage noch jemand in der Lage wäre, solche Handwerkskunst zu betreiben oder gar weiterzugeben? War einmal essentiell, nun lediglich interessantes Altmetall von touristischem Interesse. Vermutlich sahen die Leute bei xXx meine Fähigkeiten ähnlich, statt Glaskasten gab´s dann ein abruptes Addio. Loslassen in Würde ist auch eine Kunst. 
  
Aufkeimende trübe Gedanken bekämpfe ich mit einem zweiten colazione, gefolgt von einem eher erfolglosen Besuch im Bergsportshop - keine Teller, nicht mal Wanderstecken zum Zeigen, was ich meine. Aber die Unterhaltung mit der stylishen Verkäuferin klappt schon soweit, dass wir beide die Sinnlosigkeit meines Ansinnens erkennen können. Die Bergsport-Bella erschrak bei meinem Eintritt im Franziskus-Look sichtbar (Ein Irrer? Ein Bettler? Beides?), so dass ich mich zurück im Fiorentino rasiere und den mützenwirren Haarschopf wieder in Ordnung bringe.

Derart bergfein (ein Oxymoron?) mache ich mich nach einer Antwort an Dennis auf den Weg zum nahen franziskanischen Kloster Montecasale auf dem Berg hinter Sansepolcro. Ohne Rucksack und in den Laufschuhen renne ich fast durch die triste Vorstadt von Sansepolcro, wo mir hinter jedem Zaun wütendes Hundegebell "Hau ab!" zuzurufen scheint. Aber vielleicht verstehe ich die Sprache der Hunde doch nicht so gut, wie mein Pilgermentor Franziskus. Nach einem Irrgang von einem halben Kilometer (meine selbst geschriebenen direzione hatte ich nicht richtig gelesen) gesellt sich Lumpi zu mir, ein schwarz-weißer irischer Setter. Er begleitet mich bis hoch zum Kloster, dabei die Strecke durch endlose Kreise vervierfachend. Anscheinend macht er das öfter - er kennt alle Abzweiger zum Kloster hinauf. Wollten seine Kumpels von vorhin auch mit? Tierkommunikation ist ein weites Feld.

An einem der Kreuzungspunkte holt mich Lucas ein, wie sich herausstellt ein belgischer Profi-Pilger, gerade in Holland lebend. Beide dachten wir, dass Lumpi jeweils zum anderen gehört und so kommen wir ins Gespräch - natürlich spricht er fast perfekt deutsch. Auch er war auf der Via Francigena unterwegs, zeitweise in Begleitung seiner "Freundin" Mona (es ist kompliziert). Am Morgen kam er mit dem Zug aus Rom zurückkehrend an und will nun sein Auto holen, auf das die Frati in Montecasale derweil aufgepasst haben.

Mit seinen schulterlangen blonden Haaren, Tauzeichen um den Hals, cooler Feldflasche am Gürtel und Nikolaus-Pilgerstab scheint er dem Pilger-Handbuch entsprungen und rennt ohne merkliche Anstrengung in einem Höllentempo den Weg zum Kloster hoch. Lumpi und ich folgen schwitzend. Wie schon in La Verna wandelt sich die Natur kurz vor Montecasale dramatisch - was vorher wild und unberührt schien, ordnet sich nun und strahlt meditative Ruhe aus. Lucas meint, dies würde durch die jahrhundertelange Tradition des Gehens, Wirkens und Betens der Kapuziner in der Natur bewirkt. Mit Heerscharen von Gärtnern aus Billiglohnländern ist dieser Effekt bestimmt nicht zu erreichen.
Franz blickt in meine Reiserichtung
Bulli - ein in romualdischer Einfachheit ausgebauter T2-Bus - wartet wohlbehalten auf dem Parkplatz. Während mein verbliebener Mitpilger (Lumpi haben die Klosterhunde vertrieben) den Mönchen einen Reisebericht gibt, erkunde ich das Kloster. Aber auch hier und ohne Menschenmassen kann ich kein tieferes Echo in mir wahrnehmen. Wie ein Tourist besichtige ich Kapelle und zugängliche Räume und verzweifle fast, dass sich die Vorfreude am Zielort angekommen schon wieder in Fremdheit und Widerstand gegen kirchliche Strukturen verwandelt. Nachdenklich treffe ich am Ausgang Lucas wieder. Er bietet mir an, mit ihm zurück nach Sansepolcro zu fahren - klar will ich.

Unterwegs erzähle ich ihm von meiner neu entdeckten Leidenschaft des meditativen Singens. Virtuos legt Lucas daraufhin eine CD mit dem rezitierten "Gayatri-Mantra" ein, auch ohne Musik eine packende Fassung dieses Gebets. Und so laufen zwei franziskanische Pilger getragen von hinduistischem Gebet in der Pizzeria ein, wo Lucas seinen Rucksack abgestellt hat. Obwohl er mehr spanisch als italienisch mit den Besitzern redet, kann er sich prima verständigen - nicht eifrig gelernte Vokabeln (ein Reflex aus meiner angeblich humanistischen Schulbildung), sondern vor allem das Überwinden von Blamage-Ängsten scheinen der Schlüssel zur Kommunikation im Ausland zu sein. Sollte ich mal mit meinen slowenischen Verwandten versuchen - meine Schwester praktiziert dies erfolgreich.

Der Abend mit Lucas in Sansepolcro wird zu einer Tour durch die diversen Kneipen der Stadt, wo wir bis zum Rausschmiss unseren Erzählungen lauschen und jede Menge Rotwein trinken. Mein Begleiter ist unfassbare Strecken gewandert, quer durch Europa bis zum Ararat und zurück (!), bis ihn in Griechenland ein Hund biss (das wollte ich nicht hören). Dazu Wandertouren in Vietnam, Afrika, Island und Schottland und  - natürlich - auf diversen Routen des Cammino de Santiago. Mit einem Job als Gartenbaubeauftragter einer Behinderteneinrichtung hat er eine Möglichkeit gefunden, diese Reisen zeitlich und finanziell einzurichten, ein richtiger Pilger-Junkie, der es nicht allzulange daheim aushält. Ob auch mir dieses Schicksal blüht? Schwer vorstellbar mit meinem Setting von Sicherheitsdenken und Harmoniesucht. Lucas und seine Freundin träumen davon, ein Pilger-Refugio irgendwo auf der Via Francigena aufzubauen, da beide diesen Weg als "kommende" Pilgerroute sehen. Faszinierende Idee, doch ich zweifle, ob Lucas angesichts der vorbeiziehenden Pilgerscharen einer neuen Herausforderung lange würde widerstehen können.

Gegen 23 Uhr nehmen wir schweren Herzens Abschied, Lucas schläft im Bulli und will gleich frühmorgens los an die Adria, um dann später in Südtirol Mona wieder zu treffen. Buon viaggio, Lucas! 


Sonntag, 3. Februar 2013

Sansepolcro

Das Hotel Diario hat wohl lange keinen so hungrigen Frühstücksgast erlebt. Mit knurrendem Magen mache ich weite Teile des üppigen Buffets nieder und starte trotz dicker Lippe (nachts mit einem speziellen Saft behandelt) wundersamerweise in bester Stimmung aus dem Hotel, das alljährlich einen Tagebuchwettbewerb ausruft. In PiSS (so habe ich den Ort meines Tiefpunktes mit den Initialen abgekürzt) besorge ich noch einigen Proviant, da die heutige Etappe lange durch die "Wildnis" führt, bevor im Tibertal wieder eine Möglichkeit zum Ausgleich des Zuckerspiegels auftaucht. 24 km liegen heute vor mir.

Der morgendliche Trubel in PiSS nervt, an der Kasse anstehen, Sucherei, Gedränge, Hast  und andere Zivilisationskrankheiten. Den Besuch der Farmacia schenke ich mir, da die Lippe tatsächlich eine Blitzheilung hinlegt, so sage ich addio zu PiSS, wende mich Richtung Val Tiberina und genieße bald dankbar den malerisch einsamen Weg, der trotz der Nähe zur Superstrada intensiv an den Bayerwald erinnert. Erinnerungen an die endlosen und tiefgreifenden Gespräche über "Eingemachtes" mit Robert werden wach, noch kurz vor meiner Abreise hatten wir uns über meinen geplanten Berufswechsel auf einer kleinen Bergtour unterhalten. Interessanterweise half mir vor allem weiter, mir selbst im Gespräch zuzuhören, wie ich die Gründe und Motive der Idee eines Umsatteln auf das Heilwesen erörterte. Er konnte sich auf kleine praktische Tipps beschränken - ein gutes Vorbild für die therapeutische Arbeit, schätze ich.

Da muss ich durch...
Endlich wieder auf dem Weg
Kees beschreibt eine Route mit zweimaligem Überwinden eines fies grinsenden Stacheldrahtzaunes, laut warnender Hinweise über Privatgrund und kaum markiert. Wohl der heutigen Streckenlänge geschuldet, denn der CAI-2 scheint laut Generalkarte in weitem Bogen um dieses Gebiet herumzuführen. Ich werde mich wohl doch besser a presto mit den GPS-Fähigkeiten meines Handys beschäftigen. Detailkarten von dieser Gegend konnte ich bislang nirgends auftreiben. Ich entscheide mich, Kees zu folgen. Eine kleine Abkürzung, kurz nicht aufgepasst - schon stehe ich im Wald und weit und breit keine der erwähnten Orientierungszeichen mehr zu sehen. Ein Stunde irre ich durch das Buschwerk umher, bis ich das andere Ende dieses Abschnittes und das vertraute rot-weiße Zeichen wieder finde. Die Angstpartie des Tages. 

Sieht harmlos aus, ist es aber nicht
Nette Villa am See















Der Aufstieg zum Stausee von Montedoglio führt mitten durch stachlig-struppiges Buschwerk, erstmals werden Kletterkünste verlangt. Die Aussicht über den See entschädigt mich für die Kratzer an den Händen, ein idealer Platz für eine kurze Pause. Die Wolken Richtung Tibertal mahnen mich zu einem baldigen Aufbruch, gute Idee - der Weg hinunter entlang den Telefonmasten weist direkt auf immer dunklere Wolken und verlangt mir alles an Balancierkünsten ab - es geht nur im Schneckentempo bergab. 

Die Bodenrillen im karstigen Boden gleichen Gletscherspalten. Wie zum Hohn ist ein Motorradfahrer die Strecke offenbar kurz vorher gefahren -  wohl ein Trial-Profi, da ich kaum zu Fuß und mit Stecken einen Schritt machen kann, ohne exakt auf den Weg zu achten. Eine Gangart, die mich dann doch an meine Arbeit im örtlichen Pfarrgemeinderat erinnert. Im Diario schrieb mir Mecki abends noch, dass sie ihre Arbeit dort aufgeben will, anscheinend steckt sie gerade auch in einer Sinnkrise. Mal sehen, was Harald, unser ambitionierter Pfarrer, dazu sagt.

Nach dem Abstieg erweist sich der Rest der Strecke durch das Tibertal entlang von Tabakfeldern als etwas langweilige Nordic-Walking-Tour. Wie es so meinem Naturell entspricht beschleunige ich mit vollem Stockeinsatz immer mehr - in Vianio ist dann Schluss mit dem Sprint, weil meine Lowas für solchen Wanderfrevel nicht gebaut sind. Die nächsten Kilometer senke ich (in den stinkenden Merrells) das Tempo und muss wegen schmerzender Ferse die letzten beiden Kilometer nach Sansepolcro im Bus zurücklegen, auch weil ich keine Lust auf die von Kees beschriebene Tiberdurchquerung bei acqua alta  habe.

So checke ich spätnachmittags im putzigen Albergo Fiorentino ein und stromere mit wachsender Begeisterung durch die mittelalterliche Stadt. Bald beschließe ich, morgen hier zu bleiben und das Kloster Montecasale anstatt einer Zwischenstation als Tagesausflug ohne meinen schweren Zaino zu besuchen. Und überraschenderweise bringt der Entschluss, von der vorgegebenen Route abzuweichen und einen Teil mit dem Bus zurückzulegen, diesmal kein schlechtes Gewissen mit sich, sondern nur Erleichterung und Zufriedenheit.


Samstag, 2. Februar 2013

Die Pfarrei von San Stefano

Kein Platz da oben, leider
Der Padrone im Giovanna hat lange Jahre in Deutschland verbracht und so komme ich nach Tagen wieder einmal zu einem Gespräch von Mensch zu Mensch. Die wunderbaren Trüffel-Pasta esse ich dann wieder solo am Tisch, was nicht angenehmer ist, wenn die Tische ringsum von intensiv diskutierenden, Wochenend-frohen Familien und Freundeskreisen besetzt sind. Ich spüle meinen Neid wider besseren Wissens mit zwei Peroni herunter und schaue zur Ablenkung nochmals kurz den Gehweg zum Santuario hoch. La Verna liegt angestrahlt von Scheinwerfern unter einem leicht angenagten Vollmond, das Motiv meiner ersten Postkarte. Auf dem Weg zurück quält mich die Frage, warum ich voller Vorfreude in La Verna angekommen schnell wieder weglief, als mich die Menschenmassen nervten. Heute fühle ich mich sehr weit entfernt von meiner Wuschvorstellung. Anstatt in der Foresteria zu übernachten und im Refettorio mit anderen Pilgern zu speisen und zu philosophieren, hänge ich isoliert im Giovanna herum. Der Gedanke, dass ich mir das alles selbst ausgesucht habe, tröstet mich kaum.
 
Als Abschied werfe ich am Morgen die Nachricht an Ka in den Postkasten vor dem Hotel und mache mich auf den größtenteils abwärts führenden Weg nach Pieve San Stefano. Das Wetter hat sich prächtig entwickelt, blauester Toscana-Himmel lässt die Blätter in allen Farben des Rotspektrums leuchten. Mit den heranziehenden Wolken und parallel zum sinkenden Blutzuckerspiegel weicht die gute Laune bald resignativem Blues. Bereits beim (fast schon gekonnt durch extra bestellte Salami ergänzten) Frühstück fiel mir ein erstes Brennen an der Lippe auf. Die dann aufblühenden Herpesbläschen, der extrem matschige Weg (Schuhe und Hose reinigen hätte ich mir sparen können) und neidgrüne Gedanken an verpasste Chancen beamen meine Stimmung in den tiefsten Keller.

Dazu herumfliegende Spinnweben, die penetrant auf Gesicht und Brille kleben und die Angst, von einer irrtümlich abgefeuerten Schrotladung durchsiebt, oder von einem desorientierten Hund mit Glöckchen angefallen zu werden - da ist sie, die erste große Sinnkrise. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit schreie ich im Wald - diesmal den Frust aus dem Leib - SCH....E!!!!

Montalone, Jägerhochburg
Zum Glück wird die Navigation jetzt mangels Markierungen weit anspruchsvoller und ich muss mich voll darauf konzentrieren, das schlingernde Pilgerschiff erst hinunter nach La Pietra und dann steil aufwärts zum P. Castelvecchio mit schöner Aussicht zu lenken. Die kläffenden Hundestaffeln und die Gewehrschüsse der Cacciatori scheinen mich einzukreisen, doch allmählich stellt sich eine fatalistische Haltung bei mir ein, ganz ähnlich der Einstellung, die ich am Ende bei xXx-Software im Betriebsrat erlebte. 

Mittags laufe ich in Montalone ein, wo mich in der Bar eine Stimmung wie in einem schlechten Western empfängt. Harte Kerls in Standard-Jäger-Outfit (jede freie Stelle mit gefüllten  Patronenhaltern ausgestattet, Knarren und Köter warten vor dem Saloon im vergitterten Pickup auf den nächsten Einsatz) in die offensichtlich obligatorische Thermoweste gewickelt, diskutieren die Ergebnisse des Vormittags. Als ich mit einem etwas lahmen "Salve" eintrete, verstummen die Gespräche kurz (war der Gruß missverständlich?), danach werde ich ignoriert, leider auch vom Besitzer der Bar. Vermutlich kursiert ein Video meiner Schrei-Therapie von vorhin schon in Youtube. Als Alternative zu blanker Ablehnung meiner Person vermute ich, dass Pilger und Jäger wohl eher nicht kompatible Lebensauffassungen vertreten. Nur widerwillig verkauft mir der Wirt eine Flasche Wasser, zu Essen gibts es nichts, so verschwinde ich mit einem hoffentlich nicht allzu provozierenden "pace e bene". 

In einem Supermercato komme ich dann doch noch an ein - aus aktuellem Anlass vegetarisches - Sandwich, das (ohne weitere Rast im etwas mürrischen Montalone) unterwegs verputzt wird. Denn der Weg hinunter nach Pieve San Stefano ist sehr meditativ, ich genieße wieder bessere Stimmung und die durch Sonnenwärme wieder erweckten toskanische Aromen in der Nase. Langsam gesellt sich das Rauschen der dicht befahrenen Superstrada zum Klangteppich der Jagdsaison - schon um halb drei ich bin am Ziel meiner 16-km-Tour heute. Im Hotel Diario scheint das Vertrauen in Pilger nicht allzu groß zu sein, erstmals muss ich mit Kreditkarte vorab bezahlen und die carta d´identita hinterlegen. Vielleicht bietet aber die Lage des Hotels direkt an der Superstrada den Boden für Geschäfte, die fernab meiner Vorstellungen liegen.

Den aufsteigenden Missmut über mein Schicksal (alleine, dicke Lippe, was will ich eigentlich hier?) dränge ich mit einer großen Wäsche und intensivem Betrachten des italienischen TV zurück. Hilft aber nichts, ich versumpfe im "Tagebuch-Hotel" vor der Glotze und kann mich nicht einmal zum Abendessen aufraffen. Der bisherige Tiefpunkt ist erreicht. Warum ich mich nicht darüber freuen kann, dass ich bisher unfall- und blasenfrei meine Etappenziele erreicht habe, ist mir rätselhaft. Vor ein paar Tagen waren dies die größten Angstpartien - alle problemlos überstanden.

Freitag, 1. Februar 2013

Auf nach La Verna

Aufstieg nach Frassieta
Die kleine Feier gestern abends beschert mir eine weitere schlaflose Nacht, erst gegen Morgen dämmere ich weg, bis mich die Sonne um halb neun weckt. Ich bin spät dran. Das typisch italienische Hotelfrühstück beansprucht nur kurz meine Aufmerksamkeit und so sprinte ich um halb zehn los - die Sonne scheint, wärmt und trocknet die klamme Ausrüstung und Pilgerseele.

Wohl keine Kamera wäre in der Lage, die unfassbar schönen Lichtspiele auf dem Weg nach Frassieta so aufzunehmen, wie sie mir beim steilen Aufstieg geschenkt werden. Die tief hängenden Wolken verstärken das milde Sonnenlicht, das die Wälder nach den Regengüssen der letzten Tage beinahe liebevoll wieder trocknet. Die Wege werden da noch etwas warten müssen - der harte Aufstieg über steile, schlammige Pfade und die beiden Nastro Azzuro von gestern bringen mich so ins Schwitzen, dass die Brille anläuft wie die Scheiben meines alten VW Käfer. "Ubi caritas...". Trotz des immer schwerer empfundenen Rucksacks packt mich dazu sportlicher Ehrgeiz und ich versuche zwei Wanderer einzuholen, die ich vor mir eher höre als sehe. Die relaxten Genusswanderer erinnern mich sehr an Robert und mich im Bayerwald in einer mediterranen Variante. Sie grüßen mich freundlich, als ich dampfend vorbeiziehe und widmen sich gleich wieder ihrem intensiven Gespräch. In diesem Moment spüre ich, wie Neid mich überfällt und mir die selbst gewählte Einsamkeit hart zusetzt. Ich bin noch vollkommen im Modus des Getriebenen, die beiden sind mir da wohl weit voraus.

Das Kircherl von Frassieta
In Frassieta ist der versprochene Wasserhahn trocken, der Kanister daneben wenig vertrauensvoll, daher muss mein Durst bis Rimbochi mit der kleinen Ration aus dem Albergo Giardino gestillt werden. Das Gebell der nun mehr fast allgegenwärtigen Hunde beunruhigt mich zutiefst. Meine Bedenken beim Pilgern galten vorher Schuhen, Rucksack und tibialis anterior - alles "Pillepalle" im Blick auf meine Hundeangst. So packe ich wild entschlossen meine Wanderstecken fester und mache mich auf den Weg nach Rimbochi. Den ersten Aufreger des Tages liefert dann eine Wildsau, die von der dauerbellenden Hundemeute aufgeschreckt wie eine kleine Lokomotive kurz vor mir den schmalen Weg kreuzt. Der Boden vibriert, das Unterholz knackt und mit unfassbarer Physis donnert das Viech vorbei, die Augen weit aufgerissen. Mein Gesichtsausdruck war wohl ähnlich. Ausweichen war nicht vorgesehen. 

La Verna in der Ferne, Wildsauspur quer voraus
Der Hügel von La Verna schiebt sich schon leicht wolkenverhangen und weiter entfernt, als erhofft, in den Blick. Mein erstes "richtiges" Ziel dieser Pilgerreise, die Legenden um die Wundmale des heiligen Franz befeuern seit einiger Zeit meine mystischen Phantasien. Zu gern hätte ich heute in der foresteria übernachtet, doch ein freundliches Mail von Sr. Priscilla teilte mir mit, dass wegen eines Jungendtreffs kein Platz mehr frei sei. Schade, ich muss in den Ort unterhalb ausweichen.




perfekt markierte Wege im Casentino
Rimbochi begrüßt mich mit mittäglicher Schläfrigkeit, es gibt den von Kees versprochenen Wasserhahn mit köstlichem acqua potabile. Die Sonne trocknet die Merinoklamotten im Nu, so kann ich mich von dem Wildschweinerlebnis mit einem Panino aus dem Laden erholen. Mir wird bewusst, wie wenig ich in den letzten Jahren in der Natur unterwegs war. Die Jagd war mir schon immer fremd - hier und jetzt scheint sie für die Bevölkerung des Casentino zentrales Thema zu sein. 

Das Geballer ringsherum begleitet mich ebenso wie dauerndes Gebimmel von den Glöckchen, die (wilde? freilaufende?) - Entschuldigung - Köter um den Hals tragen. Abgelenkt werde ich beim brutal steilen Anstieg auf den P. Montopoli von einer spannenden Bachdurchquerung; die von Kees empfohlenen Plastiktüten bis zum Knie leisten perfekte Dienste, so dass ich trocken "drüben" ankomme. 

Verzauberter Wald kurz vor La Verna
Der abschließende Aufstieg zum Hügel von La Verna verlangt dann alle Kraft und Konzentration - der Pfad ist steinig, voller modriger Blätter und "Baatz". Ohne Stöcke und die Lowas wäre das ein langer Tag unterwegs geworden. Kurz vor dem Ziel verwandelt sich der eher ungepflegte Forst  in eine mystisch anmutende Landschaft voller tiefgrüner, Moos überwucherter Felsbrocken. Als sich der Wald immer mehr zu einem freundlichen Park mit angelegten Wegen entwickelt, lerne ich Raul kennen. Ein angriffslustiger schwarzer Bursche, dem man nicht den Rücken zudrehen darf. Ungerührt von den verzweifelten Rufen seines Herrn geht er mit vollem Tempo auf mich los. Wie ein Torero hebe ich meinen unbetellerten Stecken und bin zu allem bereit. Im letzten Moment versucht Raul da seinen Angriff abzubrechen, was durch den nassen Untergrund in Wegrutschen und Überschlag endet. Ich muss wohl auch ziemlich geschrieen haben, meine Kehle ist ganz wund. Herrchen erzählt mir totenblass und in englisch Hundehalterlatein (Hat er noch nie gemacht, will nur spielen usw). Mit einem ebenfalls lateinischen "pax et bonum" lasse ich ihn und Raul stehen, nicht ohne ein waches Auge und Ohr rückwärts zu bewahren...

Keine Seele vor dem Eingang
Keuchend erreiche ich voller Herzklopfen La Verna und bin nach dem langen Tag alleine etwas geschockt von den Menschenmassen dort. Zwar finde ich auch einige stille Flecken, aber nach kurzem Besuch der Stigmata-Kapelle und des Ladens mache ich mich auf den Weg hinunter nach Chiusi della Verna. Meinen Rucksack ziert nun das "Tau", den griechischen Buchstaben, mit dem Franziskus seine Briefe signiert hat. Mit diesem Symbol fühle ich mich nun den Pilgern gen Rom auch äußerlich zugehörig.


Gesichter im Fels
Im Albergo "Da Giovanna" werde ich, anders als es der Name erwarten lässt, von einem breit grinsenden padrone empfangen, der mich auf die abendliche Spezialität (Pizza aus dem Holzofen) hinweist. Voller Vorfreude beziehe ich mein Zimmer, wasche meine Sachen am Becken kurz durch und spendiere meinen treuen Lowas eine Hochglanzpolitur mit dem herb duftenden Lederfett. Kurzer Anruf mit dem Handy zuhause - alles paletti, Gerda hat sich ein Zweitexemplar von Kees´ Pilgerführer zugelegt und verfolgt meine Reise nun mit dem Finger auf der Landkarte mit. Mir schwant, dass ich mit mehr Geduld und Offenheit auch ein Mehr an Akzeptanz erreichen könnte. Vielleicht war die empfundene Ablehnung meiner Pläne nur die Bitte um mehr Einblick in meine Motive? 

Wenn ich mir da nur selbst klarer wäre.