Samstag, 2. Februar 2013

Die Pfarrei von San Stefano

Kein Platz da oben, leider
Der Padrone im Giovanna hat lange Jahre in Deutschland verbracht und so komme ich nach Tagen wieder einmal zu einem Gespräch von Mensch zu Mensch. Die wunderbaren Trüffel-Pasta esse ich dann wieder solo am Tisch, was nicht angenehmer ist, wenn die Tische ringsum von intensiv diskutierenden, Wochenend-frohen Familien und Freundeskreisen besetzt sind. Ich spüle meinen Neid wider besseren Wissens mit zwei Peroni herunter und schaue zur Ablenkung nochmals kurz den Gehweg zum Santuario hoch. La Verna liegt angestrahlt von Scheinwerfern unter einem leicht angenagten Vollmond, das Motiv meiner ersten Postkarte. Auf dem Weg zurück quält mich die Frage, warum ich voller Vorfreude in La Verna angekommen schnell wieder weglief, als mich die Menschenmassen nervten. Heute fühle ich mich sehr weit entfernt von meiner Wuschvorstellung. Anstatt in der Foresteria zu übernachten und im Refettorio mit anderen Pilgern zu speisen und zu philosophieren, hänge ich isoliert im Giovanna herum. Der Gedanke, dass ich mir das alles selbst ausgesucht habe, tröstet mich kaum.
 
Als Abschied werfe ich am Morgen die Nachricht an Ka in den Postkasten vor dem Hotel und mache mich auf den größtenteils abwärts führenden Weg nach Pieve San Stefano. Das Wetter hat sich prächtig entwickelt, blauester Toscana-Himmel lässt die Blätter in allen Farben des Rotspektrums leuchten. Mit den heranziehenden Wolken und parallel zum sinkenden Blutzuckerspiegel weicht die gute Laune bald resignativem Blues. Bereits beim (fast schon gekonnt durch extra bestellte Salami ergänzten) Frühstück fiel mir ein erstes Brennen an der Lippe auf. Die dann aufblühenden Herpesbläschen, der extrem matschige Weg (Schuhe und Hose reinigen hätte ich mir sparen können) und neidgrüne Gedanken an verpasste Chancen beamen meine Stimmung in den tiefsten Keller.

Dazu herumfliegende Spinnweben, die penetrant auf Gesicht und Brille kleben und die Angst, von einer irrtümlich abgefeuerten Schrotladung durchsiebt, oder von einem desorientierten Hund mit Glöckchen angefallen zu werden - da ist sie, die erste große Sinnkrise. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit schreie ich im Wald - diesmal den Frust aus dem Leib - SCH....E!!!!

Montalone, Jägerhochburg
Zum Glück wird die Navigation jetzt mangels Markierungen weit anspruchsvoller und ich muss mich voll darauf konzentrieren, das schlingernde Pilgerschiff erst hinunter nach La Pietra und dann steil aufwärts zum P. Castelvecchio mit schöner Aussicht zu lenken. Die kläffenden Hundestaffeln und die Gewehrschüsse der Cacciatori scheinen mich einzukreisen, doch allmählich stellt sich eine fatalistische Haltung bei mir ein, ganz ähnlich der Einstellung, die ich am Ende bei xXx-Software im Betriebsrat erlebte. 

Mittags laufe ich in Montalone ein, wo mich in der Bar eine Stimmung wie in einem schlechten Western empfängt. Harte Kerls in Standard-Jäger-Outfit (jede freie Stelle mit gefüllten  Patronenhaltern ausgestattet, Knarren und Köter warten vor dem Saloon im vergitterten Pickup auf den nächsten Einsatz) in die offensichtlich obligatorische Thermoweste gewickelt, diskutieren die Ergebnisse des Vormittags. Als ich mit einem etwas lahmen "Salve" eintrete, verstummen die Gespräche kurz (war der Gruß missverständlich?), danach werde ich ignoriert, leider auch vom Besitzer der Bar. Vermutlich kursiert ein Video meiner Schrei-Therapie von vorhin schon in Youtube. Als Alternative zu blanker Ablehnung meiner Person vermute ich, dass Pilger und Jäger wohl eher nicht kompatible Lebensauffassungen vertreten. Nur widerwillig verkauft mir der Wirt eine Flasche Wasser, zu Essen gibts es nichts, so verschwinde ich mit einem hoffentlich nicht allzu provozierenden "pace e bene". 

In einem Supermercato komme ich dann doch noch an ein - aus aktuellem Anlass vegetarisches - Sandwich, das (ohne weitere Rast im etwas mürrischen Montalone) unterwegs verputzt wird. Denn der Weg hinunter nach Pieve San Stefano ist sehr meditativ, ich genieße wieder bessere Stimmung und die durch Sonnenwärme wieder erweckten toskanische Aromen in der Nase. Langsam gesellt sich das Rauschen der dicht befahrenen Superstrada zum Klangteppich der Jagdsaison - schon um halb drei ich bin am Ziel meiner 16-km-Tour heute. Im Hotel Diario scheint das Vertrauen in Pilger nicht allzu groß zu sein, erstmals muss ich mit Kreditkarte vorab bezahlen und die carta d´identita hinterlegen. Vielleicht bietet aber die Lage des Hotels direkt an der Superstrada den Boden für Geschäfte, die fernab meiner Vorstellungen liegen.

Den aufsteigenden Missmut über mein Schicksal (alleine, dicke Lippe, was will ich eigentlich hier?) dränge ich mit einer großen Wäsche und intensivem Betrachten des italienischen TV zurück. Hilft aber nichts, ich versumpfe im "Tagebuch-Hotel" vor der Glotze und kann mich nicht einmal zum Abendessen aufraffen. Der bisherige Tiefpunkt ist erreicht. Warum ich mich nicht darüber freuen kann, dass ich bisher unfall- und blasenfrei meine Etappenziele erreicht habe, ist mir rätselhaft. Vor ein paar Tagen waren dies die größten Angstpartien - alle problemlos überstanden.

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