Donnerstag, 31. Januar 2013

Stia - Camaldoli - Badia Prataglia

Die ganze Nacht hindurch trommelt beharrlich der Regen gegen die Fenster meiner Luxuspilger-Herberge. Am Morgen erwartet mich an der Rezeption die Wettervorhersage mit der sibyllinischen Aussage tempo incerto - wechselhaft in Richtung mehr Sonne würde ich mehr begrüßen. Obwohl der Aufenthalt in Stia meiner Reisekasse einen empfindlichen Aderlass beschert hat, scheide ich nach einem opulenten Frühstück incl. Lunchpaket froh gemut von dieser beschaulichen Stadt.

Endlich geht der Weg nun einmal meditativ sanft durch die friedliche Hügellandschaft bergan. Meine Gedanken verweilen lange bei der werdenden Mutter, die nach geduldig ertragenem Singleleben endlich dem Mann ihrer nicht eben anspruchslosen Träume begegnete. Leider liegt zwischen den beiden eine halbtägige Zugfahrt und keiner der sehnsüchtigen Fernschmachter bringt es übers Herz, Heimat, Single-Dasein und als Erbe feststehendes Elternhaus samt Besatzung zurückzulassen. Nun gesellen sich Zwillinge zu dieser komplexen Konstellation, ohne dass dieser Zuwachs bislang zur Klärung der Situation in Richtung eheähnliches Zusammenleben beitragen konnte. Mein mentaler Anteil zu einer positiven Entwicklung muss sich trotz intensiven Nachdenkens auf fromme Gebete beschränken, denn kein noch so gut gemeinter Ratschlag will mir einfallen (noch stünde er mir zu). Da ich auf Nachrichten in Form von freudigen Geburtsanzeigen hoffe, bleibt das Handy ausnahmsweise an, doch bis zum Abend erreichen mich keinerlei Neuigkeiten aus dem Chiemgau, der Heimat von Gerdas Freundin.

Mit diesen Gedanken laufe ich im Dörfchen Lonnano ein und steuere zielsicher auf den winzigen Laden zu, der das kunterbunte Zentrum für die Bewohner abzugeben scheint. Die neugierigen Blicke legen die Vermutung nahe, dass Pilger nach Rom (der Gedanke erscheint mir gerade wieder aberwitzig) hier eher selten ihren Bedarf an Wasser und Obst ergänzen, so wie ich es freundlich lächelnd erledige. 

Der Casentino, gerade regnet es mal nicht (aber bald...)
Kurz nach Lonnano empfängt mich (jetzt wieder in Bergschuhen) der Casentino von einer dunklen Wolkenfront hinterlegt. Die gut markierte via legna zieht nun steil bergauf, was meiner guten Stimmung von heute morgen weniger abträglich ist, als der seltsame Feuchtnebel. Die Wolken haben mich mittlerweile eingeholt und obwohl es nicht richtig regnet, durchfeuchtet mich der Nebel systematisch. Am Croce Gaggi verzweifele ich fast - trotz Regenkleidung suppen mich der nun einsetzende Regen und ein ekelhaft kalter Wind immer mehr durch. Trotzdem schaffe ich Schritt vor Schritt zu setzen, immer Richtung Eremo di Camaldoli. Irgendwo im Matsch verliere ich leider den Teller eines Wanderstockes, der nun immer etwas tiefer einsackt, als der andere. Nur die Vorstellung, wie ich wohl einen Wanderstockteller im nächsten Ort mit Sportgeschäft zu ordern versuche, kann mich da noch aufheitern.
Suchbild: hier liegt irgendwo mein "Steckerteller" (immer noch)
Die Kamaldulenser, ein Orden gemeinsam lebender Eremiten, öffnen ihre Clausura nur stundenweise für neugierige Touristen. Dem beinahe apathisch ankommenden schlaflosen Pilger bietet sich eher der Eindruck eines sicher versperrten Knastes. Mir reicht´s ziemlich für heute - da ich am Mittag ankomme, sind logischerweise alle Einrichtungen wie Caffé, Klausen und Klosterladen geschlossen. So begnüge ich mich mit einer kurzen Runde durch die Basilika, werfe einen bewundernden Blick (ob der extremen Kargheit des Mobiliars) durchs Fenster der Zelle des hl. Romuald und brotzeite dann vor der Klosterpforte (trocken und windgeschützt), was mir wohlwollend erlaubt wird. DIe Idee einer Lebensgemeinschaft fasziniert mich seit langem - allerdings in einer weniger extremen Variante, als die Brüder im eremo sie praktizieren.

Die Einsiedlerhäuser der Camaldulenser (durch Gitter fotografiert)

Am liebsten würde ich in Camaldoli eine Herberge suchen, aber das Zimmer in Badia Prataglia ist bestellt und ich mag nicht (schon wieder) früher aufgeben als geplant. Anders als von Kees beschrieben, habe ich die Etappen drei und vier zu einer zusammengefasst. Der Weg hinunter nach Badia ist durch den Regen aufgeweicht und wesentlich anspruchsvoller, als die drei lapidaren Sätze von Kees als Beschreibung vermuten lassen. Jedenfalls bin ich richtig froh, als ich endlich die Asphaltstraße zu meinem ersehnten Zielort erreiche. Meine Tibialis-anterior-Tendinitis meldet sich schlagartig, als ich vollgas Richtung Herberge sprinte. Diesen reißenden Schmerz im Schienbein kenne ich nur zu gut, mein gefürchteter Wegbegleiter, wenn ich zu schnell eher renne als gehe (oft nach endlosen Betriebsratsitzungen erlebt, wenn es galt, den letzten brauchbaren Zug heimwärts zu erwischen). Ein bedächtigeres Tempo plus einem endlos im Kopfradio gesungenen "Ubi caritas" besänftigen diesen ungebetenen Besucher tatsächlich schnell wieder, so dass ich wieder besser gelaunt im Albergo Giardino einlaufe.

Das Zimmer im Giardino ist zwar billig, erinnert in Temparatur und Feuchte jedoch eher an die Zelle eines Eremiten. Ich überwinde meine Scheu und erkläre nach kurzer Leo-Recherche bestimmt, dass riscaldamento non funzioná - was hektische Arbeiten an der Heizung nach sich zieht. Nach dem Besuch der Abendmesse und Skypeanruf daheim (die Zwillinge sind wohlbehalten auf der Welt, auch la Mamma ist gesund) begrüßt mich der karge Raum mit annehmbarer Temperatur. Mein Nachspüren am Ende der Etappe mündet dann (wohl in Gedanken an die extrem spartanische Klause Romualds) in schlechtem Gewissen wegen meines Luxuspilger-Snobismus. Heute konnte ich meine ansonsten egozentrischen Gedanken zumindest kurzfristig auf größere Zusammenhänge lenken.

Das traditionelle Albergo-Abendessen (Pasta e Ragu/Pollo e Pommes) runde ich mit einem Prosit auf die neuen Erdenbürger ab. Da ich wie üblich alleine im Ristorante sitze, proste ich mir selbst mit einem Schnapserl zu und gönne mir in Anlehnung an die Zwillinge ein zweites Bier. Auch weil sich heute eine pilgerische Zufriedenheit einstellt, 21 km, darunter eine veritable Bergtour findet der kritische Geist ganz annehmbar.

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